Das schweizerische Familienzulagensystem weist Reformbedarf auf. Zu diesem Schluss kommt Marc Stampfli, ehemaliger Leiter des Bereichs Familienfragen im Bundesamt für Sozialversicherungen BSV. Eine vom Bund koordinierte Reform sollte das Kind konsequent ins Zentrum stellen, Familien in prekären Situationen entlasten, die Finanzierung vereinheitlichen und die Durchführung vereinfachen.
Familienzulagen sind ein zentrales Instrument der schweizerischen Familien- und Sozialpolitik. Das BSV hat deshalb Anfang September 2024 einen Bericht zur Entstehungsgeschichte und zu den Reformmöglichkeiten des Systems der Familienzulagen publiziert.
Lücken und Mängel im geltenden System
Drei grundlegende Strukturmerkmale prägen das schweizerische Familienzulagensystem.
Erstens die Anknüpfung an den Erwerbsstatus: Der Anspruch auf Familienzulagen ist an den Erwerbsstatus der Eltern – Arbeitnehmende, Selbstständigerwerbende, Nichterwerbstätige – gebunden und nicht wie in den meisten europäischen Ländern an das Kind selbst. Diese Anknüpfung ist der Hauptgrund dafür, dass bis heute das politisch breit abgestützte Ziel «Ein Kind, eine Zulage» nicht vollumfänglich umgesetzt werden kann. Anspruchslücken ergeben sich bei Eltern, die sich in prekären Erwerbssituationen befinden – beispielsweise bei kurzzeitigen Arbeitsverträgen, Temporärarbeit, Arbeit auf Abruf, Heimarbeit ohne vertraglich festgelegte Stundenzahl und Scheinselbstständigkeit.
Zweitens die geteilte Zuständigkeit zwischen Bund und Kantonen: Diese führt zu einem erheblichen Gefälle zwischen den Kantonen bezüglich Höhe und Art der ausgerichteten Leistungen. Schliesslich ist festzuhalten, dass die Familienzulagen zwar ein wichtiger Beitrag an die Kosten der Familien für ihre Kinder sind, sie es aber nicht vermögen, die Familienarmut gezielt und effizient zu minimieren.
Drittens die Privilegien für die Landwirtschaft: Während die Selbstständigerwerbenden ausserhalb der Landwirtschaft ihre Zulagen eigenständig finanzieren müssen, werden die Zulagen für die Bäuerinnen und Bauern von der öffentlichen Hand finanziert (zwei Drittel der Bund, ein Drittel die Kantone).
Eine umfassende Bundeslösung
Die mit der komplexen Struktur des schweizerischen Familienzulagensystems einhergehenden Lücken und Mängel sind systemimmanent. Sie lassen sich mit einzelnen Reformen nicht beheben, allenfalls können damit einzelne Verbesserungen erzielt werden. Soll das System grundlegend und nachhaltig verbessert werden, bedarf es einer umfassenden Bundeslösung.
Diese müsste unter anderem folgende Eckwerte enthalten:
Die Familienzulagen werden durch den Bund schweizweit einheitlich geregelt.
Der Anspruch auf Familienzulagen wird unabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern an das Kind geknüpft; alle Einkommensgrenzen werden aufgehoben. Die Zulage wird an die obhutsberechtigten Personen (Eltern) bzw. an die obhutsberechtigte Einelternfamilie ausgerichtet. Damit besteht schweizweit für alle Kinder und Jugendlichen in Ausbildung Anspruch auf dieselben Zulagen.
Um die Familienarmut gezielt zu minimieren, werden zusätzlich zu den Familienzulagen Bedarfszulagen an Working-Poor-Familien ausgerichtet.
Trotz dieser offensichtlichen Vorteile lässt sich mit Blick auf die langwierige und politisch höchst kontroverse Entstehungsgeschichte des Familienzulagengesetzes als Rahmengesetz unschwer ableiten, dass die Realisierungschancen eines umfassenden Bundesgesetzes klein sind. Der politische Knackpunkt liegt weniger in der Thematik «Ausbau des Sozialstaats» als vielmehr im Föderalismus, der gerade in der Familienpolitik so stark verankert ist.
(Quelle: Marc Stampfli in CHSS, 04.09.2024)
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